Der Beitrag basiert auf dem Buch 4 Werte, die Kinder ein Leben lang tragen von Jesper Juul.
Autor: Jesper Juul

Auf vielen Gebieten der Erziehung fühlen sich Elterheute sehr verunsichert. Sie sind engagiert und wollen es richtig und vor allem anders und besser machen als ihre eigenen Eltern, wissen aber oft nicht, wie. Das wird auch in all den Briefen Hilfe und Rat suchender Eltern an mich deutlich.

 

Eltern fragen Jesper Juul:

Wir haben eine knapp 4-jährige Tochter und einen anstrengenden Alltag. Wir sind wohl eine dieser Familien, die in der viel diskutierten »Zeitfalle« stecken. Wir sind generell der Meinung, dass Kinder einen festen Rahmen brauchen und gewisse Regeln lernen müssen. Also versuchen wir auch, unserer Tochter das richtige Benehmen bei Tisch beizubringen.

Seit einiger Zeit hat sich dies zu einem Drama entwickelt – sie will weder ordentlich auf ihrem Stuhl sitzen noch normal essen. Wir meinen, dass wir unsere Erwartungen an sie sehr deutlich gemacht haben. Wir haben ihr erklärt, warum es wichtig ist, dass man »schön« essen kann.

 

Jetzt haben wir damit begonnen, die Time-out- Methode anzuwenden


Jetzt haben wir damit begonnen, die Time-out- Methode anzuwenden (wie wir das bei einer Nanny im Fernsehen gesehen haben). Wir setzen sie in ihr Zimmer, schließen die Tür und gehen erst nach ein paar Minuten wieder zu ihr hinein. Am Anfang hat sie viel geweint, doch jetzt ist sie nur noch mürrisch und still, wenn wir kommen.

Essen tut sie auch nur noch widerwillig. Sie verhält sich also schon ein wenig mehr so, wie wir wollen, aber die Stimmung haben wir uns natürlich anders vorgestellt. Machen wir etwas falsch?

Majas Eltern

Antwort von Jesper Juul:

Meine unmittelbare Antwort auf Ihre Frage ist ein klares »Ja!« Lassen Sie mich das zuerst begründen, bevor ich Ihnen eine Alternative vorschlage. Am besten, wir nehmen den Hubschrauber und betrachten uns die ganze Situation von oben:

Erziehung als Machtkampf ist immer eine schlechte Idee.

Wir sehen zwei verantwortungsvolle, intelligente und erfahrene Erwachsene, die einen hoffnungslosen Kampf mit ihrer 4-jährigen Tochter führen. Sie schießen damit weit über das Ziel hinaus! Erziehung als Machtkampf ist immer eine schlechte Idee, weil sowohl die Eltern als auch das Kind am Ende als Verlierer dastehen und sich die Qualität ihrer wechselseitigen Beziehung spürbar verschlechtert hat – ganz gleich, wer zwischendurch einen Punktsieg verbuchen konnte.

Das Verhalten von Kindern ist immer auch ein Produkt ihrer Beziehung zu den Eltern. Sie kommen mit individuellem Temperament – das oft dem Temperament eines Elternteils ähnelt – und unterschiedlichem Potenzial auf die Welt. Wie sie dieses entwickeln, hängt vor allem von den Führungsqualitäten ihrer Eltern ab. Mit anderen Worten: Das liegt in Ihrem Verantwortungsbereich.

Darum ist es ebenso ungerecht wie verantwortungslos, Ihrer Tochter die Schuld für diese Konflikte zu geben. Und genau das tun Sie, wenn Sie sie in die Isolation schicken. Ihre Botschaft ist deutlich: Wir sind nicht zufrieden mit der Situation, und das ist deine Schuld.

Wenn Eltern frustriert über die Beziehung zu ihren Kindern sind, ist das jedoch niemals die Schuld der Kinder. Vielmehr stehen Sie in der Verantwortung, Ihren eigenen Beitrag zur Gesamtsituation zu ändern. Wenn wir dem Kind die Schuld geben, kränken wir seine persönliche Integrität und reduzieren seine Lebenstauglichkeit.

Schuld und Scham sind die beiden selbstzerstörende Gefühle, die wir kennen.

Das bedeutet nicht, dass ich Sie für »verantwortungslos« halte – ganz und gar nicht! Es spricht ja zum Beispiel für Ihr Verantwortungsgefühl, dass Sie Ihrer Tochter ein zivilisiertes Benehmen bei Tisch beibringen wollen.

Aber die Stimmung in einer Familie, auch zwischen den Eltern, hängt nur sehr selten davon ab, was wir tun, sondern vor allen Dingen wie wir es tun. Das ist die wichtige Dimension, die von den TV-Nannys vergessen wird. Stattdessen bauen sie eine falsche Wirklichkeit auf, in der sich scheinbar alles um Erziehung dreht – um richtige oder falsche Erziehung oder auch um die Abwesenheit von Erziehung.

Ihre Tochter macht mit ihrem anstrengenden Benehmen darauf aufmerksam, dass etwas mit Ihrer Beziehung nicht in Ordnung ist – dass es ihr nicht wirklich gut geht, und es ist Ihre Aufgabe, darüber nachzudenken, woran das liegen könnte.

Das bedeutet nicht, dass Sie bisher »schlechte« Eltern gewesen sind, sondern nur, dass Sie sich in ein paar Punkten geirrt haben, was an sich halb so schlimm ist, wenn Sie die Verantwortung dafür übernehmen und Ihr Verhalten ändern. Alle Eltern irren sich in gewissen Punkten, und wir können unsere Elternkompetenz nur dann steigern, wenn wir aus unseren Fehlern lernen.

Ich kenne Ihre Familie nicht persönlich, aber manches deutet darauf hin, dass Sie es in Ihrem Bestreben, dass alles reibungslos funktioniert, zu eilig haben. Ihre Tochter scheint sich mehr als Belastung, weniger als Mensch und Teil der Gemeinschaft zu fühlen.

Bei modernen Kindern sehen wir oft diese besondere Form der Einsamkeit.

Bei modernen Kindern sehen wir oft diese besondere Form der Einsamkeit, und früher oder später betrifft sie auch die Liebesbeziehung der Erwachsenen. Wir spüren nicht mehr, dass wir das Leben unseres Partners bereichern, wenn sich alle Energie auf die Arbeit und die familiären Abläufe richtet.

Vielleicht ist es das, was Ihre Tochter Ihnen sagen will: »Hört doch bitte damit auf! Können wir es nicht einfach ein bisschen gemütlich haben?« Unabhängig davon, was sie Ihnen eventuell mitteilen will, möchte ich Ihnen Folgendes vorschlagen:

Setzen Sie sich mit Ihrer Tochter in Ruhe zusammen und sagen Sie zu ihr: »Wir waren so unsicher, wie wir uns verhalten sollten, dass wir dich für etwas bestraft haben, das nicht deine Schuld ist. Das tut uns sehr leid, und das werden wir auch nicht mehr machen. Wir wissen noch nicht genau, was wir stattdessen tun sollen, aber wir werden auf jeden Fall die Verantwortung dafür übernehmen.«

Im Fernsehen sieht es oft so aus, als würde die Time-out-Methode funktionieren. Und das tut sie auch oft für kurze Zeit. Wenn die Erwachsenen sich viel Mühe geben und konsequent sind, kann die Wirkung sogar ziemlich lange andauern. Es wirkt nämlich immer, wenn die Stärksten die Schwächsten kränken, doch später muss ein hoher Preis dafür gezahlt werden.

Die Kinder kämpfen oft ihr Leben lang gegen Schuld und Scham und ihr geringes Selbstwertgefühl an. Außerdem wird das Verhältnis zu den Eltern schlecht. Diese Form der Kränkung hat nichts mit Erziehung zu tun. Sie ist eine Dressur, und die Wunden auf der Seele des Kindes werden nicht dadurch geheilt, dass an anderer Stelle gelobt wird.

Wenn Sie also eine Auszeit nehmen wollen, dann nehmen Sie diese gemeinsam. Wenn sich der Konflikt auf destruktive Weise festgefahren hat, also ein Machtkampf entstanden ist, können Sie das Kind mit sich in einen anderen Raum nehmen, sich nebeneinandersetzen und zusammen über alles nachdenken.

Wenn es den Eltern gelingt, eine Weile zu schweigen, sind es oft die Kinder, die als Erste konstruktive Lösungsvorschläge machen.

Schließlich will ich Ihnen noch eine Faustregel mitteilen: Wenn Sie in Erwägung ziehen, Ihrem Kind gegenüber irgendeine »Methode« anzuwenden, dann überlegen Sie zuerst, ob Sie etwas Entsprechendes mit Ihrem Partner tun würden. Lautet die Antwort Nein, dann handelt es sich höchstwahrscheinlich um eine schlechte Idee – es sei denn, Sie würden zu jenen Erwachsenen gehören, die immer noch nicht einsehen wollen, dass es sich bei Kindern um richtige Menschen handelt.

Der Beitrag basiert auf dem Buch 4 Werte, die Kinder ein Leben lang tragen von Jesper Juul