Wir laden sie, liebe Leser und Leserinnen, zu einem weiteren Beitrag zur Serie: Allerlei Wissenswertes über unsere Stadt ein. Diesmal geht es um junge Italienerinnen, die in den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts in die Schweiz kamen.

 

Wie Sie wissen, erlebte die Schweiz im 19. Jahrhundert schon einmal eine grosse Einwanderungswelle. Viele Italiener bauten damals in unserem Land Eisenbahnlinien und Strassen. Man denke da vor allem an Grossbaustellen wie Simplon, Lötschberg und Gotthard. Nach dem zweiten Weltkrieg profitierte die Schweiz von einer intakten Infrastruktur und mit dem Aufschwung der Wirtschaft wurde in Zeiten der daraus resultierenden Hochkonjunktur überall händeringend nach Arbeitskräften gesucht. In jener Zeit strömten erneut Tausende Arbeiter aus Norditalien in die Schweiz. Nachdem die Industrialisierung in der Lombardei und im Piemont erfolgreich forciert wurde, versuchten in der Folge vermehrt Hilfskräfte aus dem wirtschaftlich schwachen Süden ihr Glück in der Schweiz, darunter auch ein nicht zu vernachlässigender Anteil von ca. 30 Prozent Frauen. Als Hilfsarbeiterinnen arbeiteten die meisten von ihnen in der Maschinen und Textilindustrie oder als Reinigungskräfte, wenn auch anfänglich unter harten Bedingungen.

 IMG_8150„Wir sind aufgebrochen eines Abends im Mondschein, begleitet von der Hoffnung, dem Glück zu begegnen…“

Dieses traditionelle italienische Lied widerspiegelt die Situation, in der sich damals sehr viele Italienerinnen befanden, in deren Heimat schwere körperliche Arbeit, streng patriarchalische Verhältnisse und Rechtlosigkeit gegenüber Frauen herrschten. Die meisten flohen vor der allgegenwärtigen Armut und der sie begleitenden Hunger.

„Wir waren arm, hatten Schulden, meine Mutter opferte sich auf, damit wir überlebten. So beschloss ich in die Schweiz zu gehen, zu arbeiten, um Geld nach Hause schicken zu können…“

So wie dieser jungen Italienerin erging es Tausenden. Einige hatten Glück und hatten Verwandte, die schon früher in die Schweiz ausgewandert waren, und bei denen sie Unterstützung und manchmal Unterschlupf finden konnten.

„Ich habe nur gewusst, die haben viele Fabriken, wo man arbeiten und Geld verdienen kann…“

So brachte es eine andere Immigrantin auf den Punkt, und obwohl das Klima im Norden rauher war, konnte man darauf hoffen, dass man als Arbeitskraft mit offenen Armen empfangen wurde. Viele der Frauen arbeiteten in Spitälern oder als Reinigungskräfte, doch der überwiegende Teil fand ein Unterkommen als Angelernte oder Hilfskräfte in der Industrie (Sulzer, Rieter, Osram, Geilinger, Aspasia, Nägeli, Achtnich u.v.a.) Nebst einem geregelten Einkommen steigerten ein gewisses Selbstbestimmungsrecht, finanzielle Unabhängigkeit und die Befreiung von familiärer Bevormundung das Selbstwertgefühl dieser Frauen.

Wurden ihnen anfänglich nur untergeordnete Arbeiten übertragen, so gelang es einigen nach und nach in sogenannte Männerdomänen einzudringen, indem sie sich zu Vorarbeiterinnen, technischen Zeichnerinnen oder Kranführerinnen ausbilden liessen.

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Mit der ungebremsten Zuwanderung ergaben sich zusehends Probleme auf dem Wohnungsmarkt. Nebst der zunehmenden Knappheit an Wohnraum spielten damals auch handfeste Vorurteile gegenüber ausländischen  Arbeitern eine fatale Rolle. Nur wenige Immobilienbesitzer waren damals bereit, an Italiener zu vermieten, da diese als lärmig, ungebildet und mit den hiesigen Gepflogenheiten wenig vertraut schienen. Ausserdem fürchteten sich viele Einheimische vor einer falsch verstandenen Zudringlichkeit seitens der jungen Fremdarbeiter. Gängige Klagen von Vermietern gingen dahin, dass Italiener sich angeblich Schweine in der Badewanne hielten, oder Gemüse in der Wohnung zogen.

Vor allem für die Frauen war die Wohnungssuche oft ein schmerzliches Unterfangen. Die meisten waren angewiesen, bei Verwandten oder Bekannten ein Zimmer mieten zu können. Duschen konnte man dabei meist nur in der Badeanstalt, da die hygienischen Verhältnisse in vielen Liegenschaften eher prekär waren, denn nicht selten landeten Gastarbeiter oder ganze Familien in verlotterten Altbauten oder ausgedienten Baubaracken. Was den Frauen, die in ländlichen Gegenden aufgewachsen waren, oft schwer fiel, waren die teils unzumutbaren Platzverhältnisse, wie sie in den typischen Wohnsiedlungen herrschten. Eine Möglichkeit, aus der bedrückenden Enge auszubrechen, war die Arbeit in einem Schrebergarten, wo Gemüse aus der Heimat (Auberginen, Broccoli, Pepperoni etc.) angepflanzt wurden und wo man sich in der Freizeit mit Landsleuten zu einem fröhlichen Schwatz traf.

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Zudem konnten sich die Frauen in sogenannten Centri treffen, sich bei karitativen Aktionen beteiligen, um so dem tristen Alltag etwas zu entfliehen. Von der Entwicklung einer Parallelgesellschaft konnte man damals zwar kaum sprechen, nichtsdestoweniger muten Verhaltensregeln, die sich die Immigrantinnen auferlegten aus heutiger Sicht recht seltsam an, wie dieser Paragraph festhält:

Vertraue keinen Fremden. Sei stets freundlich, aber halte dich immer ganz zurück. Sei vorsichtig!

Verlier nicht den kostbaren Schatz des Glaubens … im Kontakt mit Protestanten, Nichtpraktizierenden und Unmoralischen…

Heimweh war ein ständiger Begleiter, verstärkt durch den Alltag in einem fremden Umfeld. Viele Italienerinnen hatten Mühe mit den hiesigen Gepflogenheiten, Regeln und Vorschriften.

„Der Anfang war für mich schwierig. Zwei Monate lang habe ich geweint. Meine Mutter hat mir gefehlt, ich war weg von der Heimat und ich habe niemanden verstanden….“

 Auch was die Essenskultur anbetraf, gab es Überraschungen. Dass man so etwas wie Birchermüesli oder Rösti essen konnte, mutete für die eine oder andere Immigrantin eher befremdlich an. Daneben waren damals gewohnte Speisen und Zutaten aus der Heimat in der Schweiz schlicht nicht erhältlich.

Ein beachtlicher Anteil von italienischen Einwandererinnen hat hier geheiratet und eine Familie gegründet, was die Situation v.a. in finanzieller Hinsicht nicht unbedingt erleichterte.

Nebst dem Aufwand für die eigene Familie musste immer noch Geld zur Unterstützung von Verwandten in Italien übrig bleiben. Zudem mussten die Kinder bei  fortgeführter Arbeitstätigkeit in Krippen untergebracht werden. Schlussendlich sollte auch etwas Erspartes einen eventuellen Neuanfang in Italien ermöglichen. Doch viele Familien haben sich mittlerweile für immer hier niedergelassen, ihre Kinder sprechen nur mangelhaft italienisch, sind hier aufgewachsen und integriert. So blieb für viele eine Rückkehr in die rückständige Heimat ein allmählich verblassender, romantischer Traum.

Wer mehr über das Leben und Wirken von Frauen in unserer Stadt erfahren möchte, dem sei das Buch Frauenblicke, herausgegeben vom Verein Frauenstadtrundgang Winterthur wärmstens empfohlen. Nebst Recherchen von Frau Sarah Bolleter im Bezug auf italienische Immigrantinnen finden sich wertvolle und äusserst lesenswerte Berichte über den Winterthurer Alltag im Leben der Frauen über die Jahrhunderte hinweg.